Lottes Blog – Der Blog zur Lotte

Denn sie weiß nicht, was sie tut


Im Laufe meines Lebens gab es immer mal wieder Menschen, die insinuierten, es würde mir schwerfallen, mich in die Gedanken und Gefühle Anderer hineinzuversetzen. Okay, es gab zwei solcher Menschen: Meine Deutschlehrerin in der Mittelstufe und einer meiner TSG‐Gutachter. Und klar, ich kann nicht jeden einzelnen Gedankengang anderer Leute stets hundertprozentig nachvollziehen. Das ist normal.

Beispielsweise verstehe ich nicht, was an Sport so interessant sein soll, aber ich kann mir zumindest eine hypothetische Person in meinem Kopf basteln, die Volleyball auch dann spannend findet, wenn keine Anime‐Jungs mit gegensätzlichen Persönlichkeiten und Haarfarben daran beteiligt sind. Und gerade als jemand, die ab und zu den Unicode‐Zeilenumbruchsalgorithmus zum Spaß liest und zu deren liebsten Musikstücken die isolierte Bassspur einer MIDI‐Version von The House of the Rising Sun mit ausgewechselten Instrumenten gehört, ist mir das Konzept, Unterhaltung und Erfüllung aus Dingen zu ziehen, die nicht universell ansprechend sind, bestens vertraut. Wer weiß, vielleicht finde ich eines Tages sogar eine Sportart, die mein Interesse als Zuschauerin weckt.

Nein, mit sowas kommt mein Kopf klar. Allerdings existieren auch Dinge, bei denen meine Fähigkeit, andere Menschen zu verstehen, komplett versagt. Und es fühlt sich in diesen Fällen nicht mal so an, als würde mir einfach nur eine entscheidende Einsicht oder der richtige Angriffspunkt fehlen – die bloße Idee an sich scheint fundamental inkompatibel mit meinem Gehirn zu sein.

Religion ist eine dieser Ideen.


Etwas Kontext. Ich bin nicht religiös. Niemand in meiner näheren Familie war oder ist gläubig, also ist es wahrscheinlich wenig überraschend, dass es mir ähnlich ergangen ist. Selbstverständlich bin ich stark durch die Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin, geprägt, und diese Gesellschaft wiederum ist stark durch das Christentum geprägt, aber die tatsächliche Religion spielte bei uns nie eine Rolle. Weihnachten war das Fest, an dem der Weihnachtsmann den Kindern Geschenke brachte und ich mich unter dem Heizkörper im Wohnzimmer versteckte, weil ich Angst vor dem Weihnachtsmann hatte. Nicht mehr und nicht weniger.

Ich glaube nicht an Götter oder an Übernatürliches im Allgemeinen aus dem einfachen Grund, dass es für sie keine Indizien gibt. Was natürlich nicht heißt, dass ausgerechnet ich alle Antworten parat habe. Ich halte es nur für unsinnig, Aussagen zu treffen, die alles komplizierter machen, ohne verifizierbar zu sein. Ist es ein Klischee, sich auf Ockhams Rasiermesser zu berufen? Ich mag Ockhams Rasiermesser nämlich.

Existieren Götter? Da fragt ihr die Falsche. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass sämtliche andere Menschen ebenfalls keine Ahnung haben – und vor allem keine Ahnung haben können. Sollte es Götter geben, dann garantiert keine, von denen die Menschheit weiß. Wir betreiben seit wer‐weiß‐wie‐vielen Jahrtausenden Wissenschaft und kratzen gerade erst an der Oberfläche der natürlichen Welt, aber ausgerechnet die mächtigsten und ältesten Wesen des Universums sollen wir bereits kapiert haben? Das erscheint mir nicht richtig.

Die genaue Definition von Agnostizismus scheint sich jedesmal zu ändern, wenn ich sie nachschlage. Für mich persönlich besaß der Begriff immer den unangenehmen Beigeschmack, dass es Zeitverschwendung sei, diese Fragen überhaupt zu stellen, weswegen ich ihn nie wirklich für mich benutzte und mich stattdessen eher als Atheistin bezeichnete. Bei genauerer Betrachtung scheine ich jedoch tatsächlich eher eine Agnostikerin zu sein.

So weit also die Backstory. Ich bin nicht religiös und auf diesen Umstand hatte ich meiner Ansicht nach keinen wirklichen Einfluss. Es war zu keinem Zeitpunkt meine Entscheidung, sondern es ist einfach so passiert. Dass es jedoch offenbar möglich ist, eine derartige Entscheidung zu treffen und bewusst einen Grad der Religiösität zu wählen, ist ein Punkt, der nicht in meinen Kopf hinein will.

Ich verstehe natürlich, dass es Menschen gibt, die mit Religion als fester Bestandteil ihres Lebens aufgewachsen sind. Um diese Menschen geht es mir an dieser Stelle nicht. Wenn uns von klein auf etwas beigebracht wird, erscheint es uns vollkommen ordinär und selbstverständlich. Deswegen ist es wenig verwunderlich, wenn Leute, die zusammen mit Religion erzogen wurden, selbst religiös sind, ohne je bewusst diese Wahl getroffen zu haben.

Meine Frage lautet eher: Wie entscheidet man sich dazu, religiös zu werden?


Bei Religion geht es um Glauben, richtig? Ich kann mir relativ sicher sein, dass dies ein zentraler Bestandteil ist. Einer Religion anzugehören, bedeutet, die Aussagen dieser Religion zumindest teilweise für die Wahrheit zu halten.

Nur... ich kann mir doch nicht aussuchen, woran ich glaube, oder? Auch auf die Gefahr hin, tautologisch zu werden, aber ich kann nicht an etwas glauben, an das ich nicht glaube. Ich kann nicht einfach mit den Fingern schnippen und entscheiden, was ich für die Wahrheit halte, genauso wenig wie ich mir meine Vorlieben selbst aussuchen kann.

Ich mag Erdbeeren. Ich könnte vorgeben, Erdbeeren nicht zu mögen. Ich könnte sogar für den Rest meines Lebens aufhören, Erdbeeren zu essen. Aber das würde nichts an der Tatsache ändern, dass ich Erdbeeren nach wie vor lecker finde. Es wäre bloß eine Lüge.

Um religiös zu werden (oder zu einer anderen Religion zu konvertieren), ist es nötig, dass ich anfange, an die neue Religion zu glauben. Ich muss meine Ansichten ändern und sowas passiert, wenn ich mit neuen Fakten konfrontiert werde, die mich überzeugen. Ich dachte jahrelang, dass es nur zwei Geschlechter gäbe; dann lernte ich, dass das nicht stimmt, und jetzt denke ich das nicht mehr. Die klassische Prozedur.

Das Problem für mich ist, dass dieser Ansatz bei Religionen nicht zu funktionieren scheint, denn die Natur von Religionen besteht darin, Dinge zu beschreiben, die sich nicht beweisen lassen und für die es keine Argumente gibt. Religiöse Aussagen sind im Kontext ihrer Religion wahr, nicht weil wir ihren Wahrheitsgehalt beobachten und untersuchen können, sondern weil sie in wichtigen Büchern stehen, die vor Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden von einflussreichen Menschen geschrieben wurden.

Es ist gar nicht mal meine Absicht, Religion und Wissenschaft als absolute und unvereinbare Gegensätze darzustellen. Ich glaube an Quantenphysik. Ich verstehe sie nicht, aber ich glaube an sie, denn es gibt Personen, die riesige Teilchenbeschleuniger betreiben. Ich glaube daran, dass außerirdisches Leben existiert, und das ist ein rein stochastisches Argument. Die allermeisten Aspekte unseres Universums werde ich niemals selbst verstehen können. Meine einzige Option ist, auf die Aussagen anderer Leute zu vertrauen, die mehr Ahnung haben als ich – und darauf zu vertrauen, dass sie tatsächlich mehr Ahnung haben. Aber das erscheint mir nicht äquivalent.

Wissenschaftler – naja, gute Wissenschaftler – behaupten nicht einfach zufällige Dinge. Sie beobachten die reale Welt und behaupten daraufhin Dinge, die mit diesen Beobachtungen so gut wie möglich kompatibel sind. Und ja, das ist nicht dasselbe wie die Wahrheit. Die volle, endgültige Wahrheit wird wahrscheinlich für immer unerreichbar bleiben, aber es ist zumindest ein ernsthafter und koordinierter Versuch, ihr ein kleines Stückchen näher zu kommen.

Welche Beobachtungen haben zu der These geführt, dass die Seele nach dem Tod in einem anderen Körper wiedergeboren wird? Keine. Menschen haben es sich ausgedacht, andere Menschen haben es niedergeschrieben, und wieder andere Menschen haben diese Schriften verbreitet. Wie rede ich mir selbst ein, dass dies ein legitimer Prozess der Wahrheitsfindung ist?

Just because you don’t know doesn’t mean you can just make shit up.

Dieser Satz, den ich bestimmt von irgendwo zitiert habe, ist keine moralische Überzeugung meinerseits, sondern – soweit ich das einschätzen kann – ein grundlegendes, unumstößliches Axiom meiner Denkweise. Mein Hirn funktioniert einfach nicht anders. Niemand hat das Recht, in Abwesenheit einer echten Antwort eine beliebige Behauptung zur Scheinantwort zu erheben. Ja, es ist zweifelsohne nervig, eine große Frage des Lebens nicht beantworten zu können, aber einfach so zu tun, als gäbe es eine Antwort, ist doch keine Lösung. Ihr könnt mir nicht erzählen, dass das in irgendeiner Weise befriedigend sei.


Ist es überhaupt so wichtig, die Wahrheit zu finden? Ob ich Quantenphysik für real halte, hat keinen Einfluss auf mein alltägliches Leben, und ob ich Reinkarnation für real halte ebenfalls nicht.

Vielleicht ist auch mein kompletter Ansatz falsch. Religiöse Texte sind keine Sachbücher und ihr Ziel liegt nicht darin, die Welt zu erklären. Sie sind Geschichten, die über Generationen weitergegeben wurden, voller Metaphern und bildhafter Sprache. Die Säulen der Erde sind nicht buchstäblich Säulen. Natürlich finde ich sie nicht überzeugend – mich zu überzeugen, ist gar nicht ihre Aufgabe. Ich erwarte ja auch nicht von den zwölf ungelesenen Romanen auf dem Regal über meinem Schreibtisch, dass sie mir stichfeste Daten und Fakten über den Aufbau unseres Kosmos liefern werden.

Wenn das aber so ist... was bleibt mir dann noch von der Religion? Wenn die übernatürlichen Aspekte wirklich keine Rolle spielen – wenn ich also nicht an Gottheit XYZ glauben muss, um der Religion rund um Gottheit XYZ anzugehören – geht es dann wirklich nur um die moralischen Lektionen, die diese Geschichten lehren? Aber dafür benötige ich doch keine ganze Religion.

Ich kann mein Moralverständnis ändern, ohne meine Religion zu wechseln. Ist die Erwartung, dass ich die Bergpredigt lese und schlussfolgere, dass es sinnvoll sei, Christin zu werden, weil ich Jesu Vorschlägen zustimme? Haben nicht sämtliche Religionen im Grunde sowieso die gleiche Vorstellung davon, wie man in groben Zügen mit seinen Mitmenschen umgehen sollte? Nächstenliebe und Toleranz scheinen mir jetzt keine sonderlich originellen Konzepte zu sein.

Ich versuche, ein guter Mensch zu sein, weil ich möchte, dass alle anderen Menschen ebenfalls ein möglichst gutes Leben führen können. Es macht mich glücklich, glückliche Menschen zu sehen. Wenn ich beobachte, dass mein Verhalten hilfreich ist, behalte ich es bei. Wenn ich beobachte, dass mein Verhalten Anderen schadet, versuche ich es zu ändern. Das erscheint mir logisch.

Diese Logik ist natürlich nicht einfach vollreif dem Äther entsprungen, sondern ist das Resultat von Erziehung und kritischem Denken, und es fällt mir schwer, einen Platz für Religion in diesem Prozess zu finden, der nicht genauso gut von tausend anderen Dingen gefüllt werden kann, die jedoch bei Weitem nicht den gleichen gesellschaftlichen Stellenwert wie Religion besitzen. Jede x‑beliebige Zeichentrickserie für Kinder bringt dieselben Lektionen bei, aber niemand „konvertiert“ zu Steven Universe.

Okay, Religion ist also nicht dafür da, Antworten auf meine Fragen zu finden, und sie hat auch nichts Einzigartiges über Moralität und Wertvorstellungen zu sagen. Geht es letzten Endes also nur um die Gemeinschaft? Menschen, die sich nach einem Gefühl der Zugehörigkeit sehnen, wenden sich an eine Religion, um so Teil einer großen Gemeinschaft zu werden, und nehmen die ganzen anderen Aspekte des Glaubens hin, weil sich das als Teil der Gruppe „nunmal so gehört“. Wie eine trans Frau, die sich einen Blåhaj kauft, obwohl ihr Plüschtiere eigentlich egal sind.

Das... klingt für mich völlig absurd. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Leute so zum Glauben finden. Irgendetwas muss ja an dem Kerninhalt der Religion attraktiv sein.


Ist Hoffnung der Knackpunkt?

Ist der Gedanke an ein Leben nach dem Tod beruhigend, auch wenn du weißt, dass sich das einfach nur jemand vor langer Zeit ausgedacht hat? Nimmst du diese kognitive Dissonanz zähneknirschend in Kauf, weil die Alternative wäre, den Tod als endgültiges Erlöschen des Seins zu konfrontieren? Denn ich kann euch eins sagen: Mit dem Tod komme ich nicht klar. Er ist mir so unverständlich, dass mir auf die Frage „Was passiert, nachdem wir sterben?“ ernsthaft keine bessere Antwort einfällt als: Entweder gibt es ein Leben nach dem Tod, oder ich im Speziellen werde buchstäblich ewig leben.

Das Problem ist nur, dass diese Antwort überhaupt keine Antwort ist. Sie ist eine Ausflucht. Mit aller Wahrscheinlichkeit bleibt nach dem Tod keine Essenz von uns übrig, die in anderer Form weiter existiert, sondern unser Bewusstsein verschwindet einfach für immer, aber weil ich mir das Verschwinden meines eigenen Bewusstseins nicht vorstellen kann, schlage ich stattdessen alternative, kompliziertere Möglichkeiten vor, die bloß noch mehr Fragen aufwerfen. Wie war das vorhin noch mit Ockhams Rasiermesser?

Und vor allem hilft mir diese Antwort auch nicht weiter, weil ich nicht an sie glaube. Ich habe keine Beweise für ein Leben nach dem Tod oder Unsterblichkeit, nicht mal grobe Anhaltspunkte. Es gibt keine Argumente, und ohne Argumente kann ich mich nicht selbst überzeugen. Denn erneut: Ich kann nicht einfach mit den Fingern schnippen und entscheiden, was ich für die Wahrheit halte. Wie soll ich bitte Hoffnung aus etwas ziehen, von dem ich weiß, dass es nur eine leere Plattitüde ist? Die Erkenntnis, dass keine der möglichen Antworten Hand und Fuß hat, würde mich eher noch weiter in die Verzweiflung treiben.


Es klingt so, als würde ich religiösen Menschen Vorwürfe machen. Wie könnt ihr es wagen, anders zu denken als ich. Teilt gefälligst meine Misere. Aber der Fall ist genau umgekehrt. Ich will es doch verstehen können. Was gibt es Schlimmeres für ein wissbegieriges Hirn, als etwas nicht zu verstehen? Bloß führt keiner meiner Ansätze zum Ziel und ich hasse, an welche Orte mich meine Gedanken stattdessen bringen. Aus meiner Perspektive erscheinen religiöse Menschen so, als würden sie sich absichtlich selbst anlügen, und das ist nicht nur eine beschämende Weise, über andere Leute zu denken, sondern auch noch kompletter Mumpitz.

Denn ich bezweifle, dass diese kognitive Dissonanz, wie ich sie beschrieben habe, tatsächlich die Lebensrealität der meisten religiösen Menschen darstellt. Ihr Glaube ist authentisch. So wie ich daran glaube, dass morgen die Sonne aufgehen wird, glauben sie daran, dass ihre Seele nach dem Tod ins ewige Paradies fahren oder sich in einem anderen Lebewesen reinkarnieren wird. So wie ich daran glaube, dass wir noch leckere Erdbeeren im Kühlschrank zu stehen haben, glauben sie daran, dass ein oder mehrere allmächtige, (mehr oder minder) gütige Wesen stets über sie wachen.

Sie wissen, dass die übernatürlichen Aspekte ihrer Religion keine Faktengrundlage haben, sondern nur aus Erzählungen stammen, und dennoch bestreiten sie sie nicht – sie sind sogar von ihnen überzeugt. Kein Widerspruch. Nada. It Just Works™︎.

Bin ich das Problem? Ist mein Gehirn wirklich, wahrhaftig inkompatibel mit der bloßen Idee von Religion? Wie kann es sein, dass ich selbst den unvorstellbaren Tod ein winziges bisschen zähmen konnte, indem ich so ziemlich jedes physikalische Gesetz aus dem Fenster geworfen und mir einfach die Theorie aus dem Ärmel geschüttelt habe, dass ich womöglich unsterblich sei, aber beim Thema Religion scheitern sämtliche Versuche, auch nur die grundlegendsten Aspekte des Konzepts logisch nachzuvollziehen?

Ist zu spüren, wie sehr mich das alles frustriert? Da ist diese Sache, die für 95% der Menschheit (die Zahl hat mir der Film Contact beigebracht) ganz locker flockig aus dem Handgelenk geht, aber ich sitze hier und Begreife. Es. Nicht.

Als versuchte man, eine Topfpflanze in Algebra zu unterrichten.


Ich wollte in diesem Artikel eigentlich noch über ganz andere Dinge schreiben, aber bevor das hier noch ausartet, mache ich lieber Schluss. Ich hatte gehofft, wenn ich meine Gedanken alle darlege, entdecke ich inmitten des Gewirrs vielleicht ein wichtiges Detail, das ich bislang übersehen hatte, aber wenn überhaupt hat diese Übung nur nochmal bekräftigt, dass ich wirklich völlig planlos bin. Was für ein Glück, dass es auf diesem Blog keine Fazite gibt.